Vortrag von Thomas Friedrich im Rahmen des Inselsommers 2008 in Ludwigshafen
Ein Warnung vorweg, ich muss Sie zuerst ein wenig durch die Hölle jagen, bevor ich Sie dann ins Paradies des Müßiggangs, der Ruhe und der Kontemplation überführe.
Der Vortrag fußt auf den methodischen Grundannahmen der Kritischen Theorie, so wie sie vor allem in der „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno und im „Eindimensionalen Menschen“ von Herbert Marcuse gefaßt wurden. Soweit die älteren Texte. Für die Analyse der gesellschaftlichen Situation heute beziehe ich mich – häufig implizit – vor allem auf die Bücher der Soziologen Wolfgang Engler („Bürger ohne Arbeit“) und Richard Sennett („Der flexible Mensch“) und die der Philosophen Michael Hardt und Antonio Negri („Empire“ und „Multitude“); außerdem beziehe ich mich auf die Homo Sacer Theorie von Giorgio Agamben.
Der Höllenteil des Vortrags
Marcuse hat im Vorwort des Buches Der eindimensionale Mensch 1964 folgendes festgestellt:
„Der Eindimensionale Mensch wird durchweg zwischen zwei einander widersprechenden Hypothesen schwanken: 1. daß die fortgeschrittene Industriegesellschaft imstande ist, eine qualitative Änderung für die absehbare Zukunft zu unterbinden; 2. daß Kräfte und Tendenzen vorhanden sind, die diese Eindämmung durchbrechen und die Gesellschaft sprengen können. Ich glaube nicht, daß eine klare Antwort gegeben werden kann. Beide Tendenzen bestehen nebeneinander – und sogar die eine in der anderen.“
Dieser Widerspruch gilt bis heute ungebrochen, ja bei genauer Sicht hat er sich erheblich verschärft. Ich werde im folgenden beide Thesen vor dem Hintergrund der heutigen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Situation eines globalen Kapitalismus nach der Systemkonkurrenz aktualisieren. Außerdem werde ich immer wieder zwischen der Situation der 1960er Jahre und der von 2008 springen, um so die Unterschiede von damals und heute deutlich zu machen.
Die technischen Entwicklungen seit Marcuses Tod
Was hier in den letzten vier Jahrzehnten zum Beispiel auf den Feldern der Automation von Arbeitsabläufen, der Computersimulation, dem Internet usw. passiert ist, ist beinahe unglaublich. Wenn Marcuse 1964 schrieb, „der Mensch vermag heute mehr als die Helden der Kultur und die Halbgötter“ (EM 76), dann gilt das heute noch viel mehr. Die Produktivkräfte sind ins Unermessliche gestiegen, was den Widerspruch zu den Produktionsverhältnissen extrem verschärft hat.
– Die heutige hohe Arbeitslosigkeit, nicht nur in Deutschland, ist notwendig sich ergebendes Resultat dieser technischen Rationalisierungsprozesse.
– Noch nie waren die Bedingungen dafür, sich endlich von harter Arbeit, Unwissenheit und Armut zu befreien, besser als heute. Die Voraussetzungen für das „Ende der Utopie“ durch ihre Verwirklichung, sind günstiger denn je,
– und Forscher, Ingenieure und Techniker, gerade auch an unserer Hochschule, arbeiten stündlich daran, diese Voraussetzungen kontinuierlich und immer schneller zu verbessern. Übrigens sind das die letzten Jobs der Moderne. Deren Inhaber sind letztlich mit nichts anderem als ihrer Selbstabschaffung beschäftigt.
Soviel zum Stand der Produktivkräfte.
Was dagegen die Produktionsverhältnisse anbelangt, so wird nach wie vor gnadenlos an der Arbeitsgesellschaft des 19. Jahrhunderts festgehalten – die Erwerbsarbeit zur Existenzsicherung gilt immer noch als vermeintlicher Normalfall. Die staatliche Gewalt, die heute aufgebracht werden muß, um die alte Ordnung trotz dieser Möglichkeit, das Bestehende zu transzendieren, zu erhalten, muß beständig erhöht werden. Marcuse nannte das „Überschußherrschaft“ oder „Surplus-Repression“. Die heutige Erscheinungsform dieser Art staatlicher Gewalt wird häufig unter das Schlagwort „Privatisierung der Gewinne – Sozialisierung der Verluste“ subsumiert und zeigt sich zusätzlich daran, daß verschiedene Arten von Kombi-Lohn längst nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel bilden. Anders gesagt, läßt sich die bestehende Wirtschaftsform, die auf Gewinnmaximierung fußt, heute nur noch durch massive staatliche Eingriffe am Leben erhalten. Wir haben längst die äußerst problematische und paradoxe Form eines repressiven Staatssozialismus zum Zweck privatwirtschaftlicher Gewinnmaximierung. Die Hoffnung, daß der höchste Stand technischer Rationalität selbst zum Umschlag in eine Gesellschaftsformation ohne solche Surplus-Repression führen könnte, ist somit berechtigter und zugleich unberechtigter denn je.
Die Rückkehr der Sozialen Frage
Kehren wir zurück zur hohen Arbeitslosigkeit. Hier zeigt sich ein großer Unterschied zu den 1960er Jahren des letzten Jahrhunderts. Damals, zu Marcuses Zeiten, schien die soziale Frage des 19. Jahrhunderts insofern gelöst, als es in Amerika und auch in Europa eine stabile Mittelschicht gab, die beständig ihren Konsumstandard steigern konnte. Die Möglichkeit permanenter Konsumsteigerung war ja regelrecht das von Marcuse beschriebene Medium für die Eindimensionalität der Welt. Arbeitslosigkeit und damit verbundene Verarmung waren damals weder in Europa noch in Amerika das dominierende gesellschaftliche Problem. Die Herstellung von Waffen aller Art beflügelte die Wirtschaft im kalten Krieg und machte einen vermeintlichen Wohlfahrtsstaat möglich. Die friedliche Produktion von Destruktionsmitteln (Waffen) gewährte damals Wohlstand und Arbeit. Armut galt als Problem der sogenannten Dritten Welt. Deswegen gelang es auch um 1968 den revoltierenden Studenten in den entwickelten Industrieländern kaum, einem breiten Teil der Bevölkerung zu vermitteln, daß eine alternative Gesellschaftsform der damaligen vorzuziehen sei: Die Menschen der entwickelten Industrieländer standen in Lohn und Brot, bekamen durch Kämpfe der Gewerkschaft ihre jährliche Lohn- und Gehaltserhöhung, und selbst ein Bauarbeiter konnte nach ein paar Jahren für sich und seine Familie ein Häuschen kaufen oder selbst bauen.
Doch nicht nur der kalte Krieg und seine damalige Produktion von Destruktionsmitteln beflügelte die Wirtschaft und machte sogenannte Wohlfahrtsstaaten möglich, auch die heißen Kriege spielten dabei eine zentrale Rolle. Sie erwiesen sich im 20. Jahrhundert als effizienteste Möglichkeit, die sehr wohl immer wieder auftretenden Überproduktionskrisen in den Griff zu bekommen. Die riesige Vernichtung von Menschen (Ware Arbeitskraft) und Sachen (Infrastruktur) in diesen Kriegen führte dann jeweils zu anschließenden wirtschaftlichen Wachstumsphasen. So fußte das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit in Westdeutschland auf den vorhergegangenen, durch das Hitlerregime verursachten Zerstörungen. Von einer Stunde Null zu sprechen oder gar davon, daß die soziale Marktwirtschaft in Westdeutschland ausschließlich das Resultat der klugen Gedanken eines Ludwig Erhard gewesen sei, verschleiert diesen fürchterlichen Zusammenhang.
Doch wie sieht die Situation im heutigen globalisierten Kapitalismus aus – 18 Jahre nach dem Ende der Systemkonkurrenz? Es haben sich einige wichtige Details verschoben, während sich am Grundsätzlichen nichts geändert hat, nämlich daran, daß die Gesellschaft der Verwertung des Werts unterworfen wird. Die Rückkehr der Armut in den entwickelten Industrieländern ist die wichtigste Veränderung der letzten Jahrzehnte. Wie eingangs beschrieben, führt vor allem der bemerkenswert hohe Standard der technischen Rationalität zu einer Zunahme der Arbeitslosigkeit, und wer arbeitslos wird, unterliegt der staatlichen Armutsverwaltung und damit allem Elend der Unfreiheit und der Überwachung. Wer dagegen noch in Arbeit steht, hat das Problem, daß er, aufgrund der durch den globalisierten Markt erhöhten Konkurrenz, für immer weniger Geld arbeiten muß. Die Klasse der working poor nimmt ebenso ständig zu wie die der Arbeitslosen. Zugespitzt formuliert, hat man heute zu wählen zwischen der Armut durch extrem schlecht bezahlte Arbeit oder der durch Arbeitslosigkeit. Doch diese beiden Formen der Armut bleiben im kapitalistischen Funktionszusammenhang. Die Arbeitslosen, von Marx als Reservearmee bezeichnet, haben lohnsenkende Funktion, die dann die working poor zu spüren bekommen. Beide Formen der Armut stabilisieren die Wirtschaft, helfen sie doch den Unternehmen dabei, die Produktionskosten zu senken. Der so beschriebene notwendige Zusammenhang von Armut und Reichtum zeigt sich heute gesellschaftlich wieder unverdeckt. Anders als zu Zeiten Marcuses, wo die Armut in der Dritten Welt stattfand, geographisch also weit entfernt von den entwickelten Industrieländern, ist heute die Differenz von Armut und Reichtum in diese Länder zurückgekehrt.
Außerkapitalistische Armut oder die Rückkehr der Subsistenzwirtschaft
Michael Hardt und Tonio Negri haben in ihrem Buch Empire aufgezeigt, daß die sogenannte Globalisierung, wenn sie denn diesen Namen wirklich verdiente, ein Segen für die Menschen wäre. Das Problem ist nämlich, daß sich Globalisierung nicht auf die Weltbevölkerung als solche bezieht, sondern letztlich nur bestimmte Menschen erreicht. Nur jener Teil der Weltbevölkerung ist von Interesse, der die Güter zur Versorgung seiner Bedürfnisse auf dem Weltmarkt auch kaufen, der sie sich leisten kann. Und genau da zeigt sich, daß die Gruppe der Menschen, die weltweit aus dem kapitalistischen Verwertungszusammenhang herausfallen, ständig zunimmt. Das Verhungern wird dann notdürftig über Subsistenzwirtschaft verhindert, die weltweit ebenso zunimmt wie die sogenannte Globalisierung. Ganze Teile der ehemaligen Dritten Welt, vor allem Afrikas, sind bereits abgekoppelt. Diese Art von Armut ist kategorial anders, als die oben beschriebenen beiden Formen, denn sie steht außerhalb des kapitalistischen Funktionszusammenhangs. In Marx’scher Terminologie haben wir es mit einer neuen Art von Lumpenproletariat zu tun.
Die Rückkehr des Feudalismus
Von den bestehenden Verhältnissen profitieren also immer weniger Menschen. Innerkapitalistisch geraten immer mehr Menschen in prekäre Lebenssituationen. Das Leben am existenziellen Abgrund wird zur Normalität. Erzwungene, weil notwendige Anpassung an die bestehenden Verhältnisse „sichert“ gerade noch die nackte Existenz. Damit wird die Unsicherheit zur Normalität. Das gute Leben, das die antiken Philosophen thematisierten, ist dagegen in weite Ferne gerückt. Wenn Demokratie bedeutet, daß die Menschen selbst gemeinsam über ihr gesellschaftliches Zusammenleben bestimmen, kann genau davon längst nicht mehr die Rede sein. Demokratie ist heute weniger durch Verweigerungen von unten, wie niedrige Wahlbeteiligungen, gefährdet, sondern durch demokratiefeindliche Maßnahmen von oben: Wir haben in dieser Hinsicht tendenziell bereits wieder feudalismusähnliche Verhältnisse. Die Staatsbürgerdemokratie transformiert tendenziell zur Eigentümerdemokratie.
Die Vernichtung des Privaten oder die Selbstauflösung der bürgerlichen Gesellschaft
Ich möchte Ihnen das anhand von einigen Beispielen aus Deutschland verdeutlichen. In den 1960er Jahren dominierten die Bürgerrechtsbewegungen in den entwickelten Industrieländern. Man ging damals zurecht davon aus, daß die Bürgerrechte zwar in den Verfassungen stehen, aber faktisch für bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht realisiert wurden. Die Black Panther Bewegung und andere entstanden. Die entscheidende Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft ist die des Privaten. Mit dem Privaten ist der Bereich des Bürgers gefaßt, in dem die Staatsgewalt nichts verloren hat. Er bildet eine Art Residuum der Freiheit. In den Grundrechten der bürgerlichen Verfassungen wird dieser Bereich rechtlich gesichert, wobei eine Antinomie unauflösbar bleibt: Die Staatsgewalt selbst sichert den Bereich des Privaten. Das heißt die Staatsgewalt schützt das Private vor sich (der Staatsgewalt) selbst. Schon begrifflich wird deutlich, wie heikel die ganze Konstruktion der Sicherung des Privaten ist. Die Linke hat traditionell das Private als autonomes Rückzugsidyll, das nur diejenigen aufsuchen, die letztlich die bestehenden Verhältnisse unangetastet lassen wollen, kritisiert. Das Private wurde als Ort affirmativer Pseudoautonomie diffamiert. Doch wie sieht die Situation heute aus? Betrachtet man zum Beispiel die Geschichte Westdeutschlands nach dem Krieg und des später wiedervereinten Deutschlands, läßt sich die deutsche Geschichte, und auch die Geschichte vieler anderer Staaten, als Repressionsgeschichte lesen, deren Hauptangriffe dem Bereich des Privaten galten. Ich zähle ein paar Stationen auf: 1956 die Wiederbewaffnung der BRD; 1968 die Einführung der Notstandsgesetze; 1972 tritt der Extremistenbeschluß in Kraft; 1977 erfolgt die Einführung weiterer Antiterrorgesetze; 1995 tritt das Schengener Abkommen in Kraft, das zur faktischen Abschaffung Deutschlands als Asylland führt; 2003 werden neue Abhörgesetze verabschiedet (großer Lauschangriff); 2005 dürfen Bankkonten abgefragt werden; und aktuell erleichtert ein weiteres Antiterrorgesetzpaket erheblich, den genetischen Fingerabdruck von kriminellen Tätern zu nehmen.
Die sukzessiven Angriffe auf den Bereich des Privaten sind heute soweit abgeschlossen. Das Private ist faktisch abgeschafft und taucht nur noch de jure in den Verfassungen auf. Die Terroranschläge des 11. September 2001 haben diesen Prozeß, der viel älter ist, lediglich erheblich beschleunigt. Sie begründen ihn nicht. Die Transformation des bürgerlichen Staates in den nackten, totalitären Sicherheitsstaat ist praktisch vollzogen, mit der faktischen Zerstörung des Privatraums. Die heute noch existenten bürgerlichen Verfassungen sind Geisterverfassungen geworden, weil sie etwas zu schützen vorgeben, das es längst nicht mehr gibt.
So sehr durch die vehementen Einschränkungen der Grundrechte eine Entwertung des Privaten stattgefunden hat, zeigt sich dagegen im Bereich des Ökonomischen eine Aufwertung des Privaten. Ablesen kann man dies an den Veränderungen der Eigentumsverhältnisse in den letzten zwanzig Jahren. In den nichtkommunistischen europäischen Ländern gab es lange Zeit einen Pluralismus verschiedener Eigentumsformen, der gesellschaftlich stabilisierend wirkte. Privateigentum, genossenschaftliches Eigentum und Staatseigentum ergänzten sich gegenseitig. Heute findet eindeutig eine Verschiebung zugunsten des Privateigentums statt. Die Entprivatisierung auf Bürgerrechtsebene geht also einher mit der Privatisierung im ökonomischen Feld.
Aus all den genannten Gründen taugen heute die bürgerlichen Kategorien nicht mehr zur Analyse der bestehenden Verhältnisse. Andere Kategorien sind notwendig.
Von der Frage nach dem guten Leben zu der Frage nach dem nackten Leben. Von Marcuse zu Agamben
Ich habe in diesem Vortrag bereits mehrmals Termini wie das nackte Leben oder die Ausnahme wird zur Regel verwendet und damit bereits auf zentrale Begriffe der homo-sacer-Theorie Giorgio Agambens zurückgegriffen. Seine Grundthese, die im Anschluß an Foucault und als philosophische Korrektur von dessen Konzept der Biopolitik zu sehen ist, lautet, daß „die Politik sich schon seit längerem in Biopolitik verwandelt“ hat und bestimmt, „welche Organisationsform sich für die Pflege, die Kontrolle und den Genuß des nackten Lebens am wirksamsten erweisen würde“. Die Folge der modernen Einsetzung „des nackten Lebens als neues politisches Subjekt“ : Nicht als Rechtssubjekt, sondern als homo sacer wird der Mensch von der Politik des 21. Jahrhunderts thematisiert.
Kurze Erklärung: Der homo sacer, wörtlich der heilige Mensch, war im Römischen Reich ein Mensch, der nicht geopfert, aber getötet werden durfte, ohne daß man wegen Mordes angeklagt wurde. Er fällt damit sowohl aus dem jeweiligen Religionssystem, als auch aus dem jeweiligen weltlichen Rechtssystem heraus. Er ist vogelfrei und besitzt nur das nackte Leben. Das „nackte Leben“ verwende ich hier als Gegenbegriff zum „guten Leben“.
Die Lebensform, die laut Agabamben vom 20. ins 21. Jahrhundert hinübergenommen und ausgeweitet wird, ist die des Lagers. Konzentrationslager, Arbeitslager, Flüchtlingslager, Lager für Terroristen nehmen in erschreckendem Maße zu. Das amerikanische Gefangenenlager in Guatanamo Bay auf Kuba und die Folterungen im Gefängnis von Abu Ghraib sind dabei lediglich die zur Zeit prominentesten Vertreter. Es findet vermehrt eine Art Outsourcing von Folter statt, organisiert von rechtsstaatlichen Demokratien. Auch der ehemalige deutsche Außenminister Schily plädiert für den Bau von Lagern in Nordafrika, um Europa vor Flüchtlingen zu schützen. Agamben sensibilisiert mit seiner Theorie für die äußerst problematische Grenze zwischen dem Rechtssubjekt und dem des nackten Lebens. Agambens Totalitarismustheorie ist freilich eng verknüpft mit der oben beschriebenen Vernichtung des Privaten. Denn Rechtssubjekt bin ich als Bürger, dessen Privatraum durch den Staat geschützt ist. Nach dem Ende des Privaten droht der Mensch als nacktes Gattungswesen für die Staatsgewalt interessant zu werden.
In einem Punkt greift selbst Agamben noch zu kurz. Die von ihm beschriebene Lebensform des Lagers, die für das 21. Jahrhundert offensichtlich immer wichtiger wird, muß ergänzt werden. Denn die Lager des 20. Jahrhunderts waren vor allem noch zentralistische Lager, Konzentrations-, Arbeits- und Vernichtungslager. Die Lagerform des 21. Jahrhunderts dagegen, nach der Aufhebung des Privaten, wird ein durch neue Techniken mögliches dezentralisitisches Lager werden. Nicht mehr Jeremy Benthams Panopticon, sondern die Überwachung durch elektronische Fußfesseln wird dabei wegweisend sein. Auf der Website des Justizministeriums des deutschen Bundeslandes Hessen war bis vor kurzem zu lesen: „Die elektronische Fußfessel bietet damit auch Langzeitarbeitslosen und therapierten Suchtkranken die Chance, zu einem geregelten Tagesablauf zurückzukehren.“
Walter Benjamin hat in seinen Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ darauf hingewiesen, daß man sehr genau auf die Mode achten solle, denn sie wäre ein guter Indikator für gesellschaftliche Veränderungen. Der Mensch des nackten Lebens ist auch dort längst präsent. Unter dem Terminus urban style kann man im Internet Modelabels finden die Häftlingsoutfit verkaufen. Es gibt sowohl Klamotten, die tatsächlich von Häftlingen genäht wurden, als auch solche, die der Häftlingskleidung berühmter Gefängnisse wie Alcatraz, Sing Sing oder Berlin-Spandau nachempfunden sind. Übrigens gibt es bei der Ästhetik der Mode einen fließenden Übergang von der praktischen Mode z.B. von Geschäftsleuten (kurze Haare, weil schnell geduscht, keine hohen Absätze bei Frauen, da man dann schneller und flexibler ist usw.) zur homo-sacer-Mode.
Ich fasse noch mal die wichtigsten Punkte zusammen.
– Der Widerspruch zwischen den aktuellen Produktivkräften und den aktuellen Produktionsverhältnissen ist groß wie nie zuvor
– Dies fußt auf der äußerst hohen technischen Rationalität.
– Demokratien sind formal zwar noch vorhanden, real herrscht aber längst eine Art neuer Feudalismus. Lediglich Vermögende, Großeigentümer, Großaktionäre, eben die berühmten happy few, vielleicht vier Prozent der Weltbevölkerung, profitieren noch von den bestehenden Verhältnissen. (Die Zahl der Millionäre steigt zwar, aber sehr langsam, verglichen mit dem Anstieg zum Beispiel der Klasse der working poor.)
– Der Rest fristet sein Dasein als Arbeitsloser oder er gehört zur Klasse der working poor. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse sind normal geworden.
– Armutsmigration und Arbeitsmigration beherrschen die Welt.
– Armutskriminalität ist entsprechend hoch.
– Mafiöse Verhältnisse werden für viele notwendig, da die erste Wirtschaft für immer größere Teile der Weltbevölkerung keine Existenzsicherung mehr bietet.
Wie lautet nun das Fazit in Bezug auf das Verhältnis von Arbeit, Muße und Glück heute? In der Antike spielte die Eudämonie, das Glück, das seelische Wohlbefinden eine zentrale Rolle. Eudämonismus hieß die philosophische Lehre, die Glück als zentrales Motiv und Ziel allen Strebens benannte. Sokrates und Epikur waren ihre prominenten Vertreter.
Doch wie steht es heute um die Eudämonie, das Glück, das seelische Wohlbefinden? Der Werbeslogan einer großen deutschen Drogeriemarktkette lautet: Müller macht glücklich. Doch soll Müller oder irgendein anderer Produktanbieter überhaupt glücklich machen? Selbstverständlich nicht. Es bedarf nicht sehr viel Phantasie, um sich auszumalen, welche wirtschaftliche Katastrophe sich heute einstellen würde, wenn die Menschen durch den Konsum von Produkten wirklich glücklich werden würden. Der glückliche Mensch ist nämlich auch zufrieden, mit sich selbst und dem, was er besitzt. Er müßte nicht arbeiten, weil er alles hat, was er braucht, und weil dem so ist, müßte er auch nichts kaufen, ein paar Verbrauchsgüter wie Nahrung ausgenommen.
Der wahrhaft glückliche Mensch wäre heute eine Katastrophe. In aktueller Terminologie ausgedrückt, würde er sowohl als Produktionsfaktor, als auch als Konsumfaktor ausfallen. Unsere heutige Wirtschaft wäre am Ende. Insofern ist die Verhinderung glücklicher Menschen die zentrale Aufgabe unserer heutigen Gesellschaft. Unglücksproduktion als wirtschaftliche Überlebensstrategie ist die aktuelle gesellschaftliche Basis. Millionen von Menschen sind mit nichts anderem beschäftigt, als Unglück zu schaffen und auf Dauer zu setzen und genau weil sie darin erfolgreich sind, werden sie gut bezahlt. Wer wahrhaftes Glück schafft, fliegt raus.
Das mag vielleicht etwas überraschend klingen, denn so einfache Wahrheiten werden heute selten benannt. Zur Verständlichkeit will ich ein paar Beispiele bringen. Es gibt eine Dialektik von Glück und Glücksversprechen. Denken sie an das Bild vom Eselskarren, der deswegen zum Laufen gebracht wird, weil sein Besitzer, auf dem Karren sitzend, dem Esel an einem langen Stab eine Möhre vor das Gesicht hält. Der Esel versucht diese zu erreichen, was freilich mißlingt, aber der ständige Versuch nach der Möhre zu schnappen, setzt eben das Gespann in Bewegung. So stellt sich das vom Besitzer erwünschte Ergebnis ein. Ein ähnliches Bild liefert der antike Mythos von Tantalos, der Qualen erleidet, weil sich die vor ihm liegenden begehrten Güter zurückziehen, so wie er sich nach ihnen streckt. Und genau nach diesen Bildern funktioniert das Verhältnis von Konsum und Glück.
Nur wer im Unglück lebt, ist empfänglich für alle möglichen Arten von Glücksversprechen. Und weil man den Konsumenten nicht verlieren will, kann es gar nicht darum gehen, ihn glücklich und zufrieden zu machen, sondern dauerhaft gierig nach den jeweiligen Produkten. Diese dienen somit der Schaffung und Erhaltung des Unglücks und haben lediglich die Qualität von Glücksversprechen. Die Produkte versprechen Glück, lösen es aber nicht ein.
Dieses Phänomen wird traditionell mit dem Begriff Sucht bezeichnet. Und genau darum geht es. Unverdeckt ehrlich spricht der Marketingfachmann auch vom „Anfixen“ potentieller Kunden und gesteht damit offen ein, daß er gar nicht vor hat, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Zuverlässig Süchtige sollen hervorgebracht werden, das heißt Menschen, die eine Tendenz haben, ständig die Drogendosis steigern zu müssen. Unsere heutige Wirtschaft fußt auf der Sucht nach glückversprechenden Gütern. Wie jede Sucht erzeugt auch diese beständig ihre Voraussetzungen selbst, in diesem Fall, die Abwesenheit von Glück.
Jeder kennt den Gemeinplatz, der Kunde sei König, man müsse ihn zufriedenstellen, sonst laufe er einem davon. Das ist freilich nur die halbe Wahrheit. Ein unzufriedener Kunde läuft in der Tat davon. Ist die Zufriedenheit gar zu groß, bleibt er jedoch ebenso fern. Diese berechnende Art der Zufriedenstellung ähnelt allerdings der, die den Süchtigen mit seinem Dealer verbindet.
Sie meinen, das wäre eine Übertreibung? In vielen Produktbereichen, zum Beispiel bei Uhren, Spielzeug, Porzellan, mittlerweile auch bei Verbrauchsgütern wie Mitteln zur Körperpflege oder Nahrungsmitteln erhält man sich Kunden zum Beispiel durch Limited Editions. Man packt sie bei der Sammlerseele. Oder betrachten wir die Seifenopern, sind sie nicht seit langer Zeit auf Suchtkonsum angelegt? Man nennt dies heute euphemistisch: Strategien der Kundenbindung. Übrigens gilt hier, daß dies am besten bei Menschen gelingt, die ich-schwach sind, also vor allem bei Kindern. Deswegen sind sie aktuell eine der zentralen Zielgruppen der modernen Marketingstrategen. Ob jemand im späteren Leben einen BMW oder einen Mercedes fährt, Nike oder Adidas trägt, entscheidet sich im Kindsalter.
Also gilt, in der Moderne muß Unglück geschaffen und erhalten werden, um Glücksversprechen loszuwerden, und die erhöhte globale Konkurrenz führt dazu, daß alle Register der Suchtproduktion gezogen werden, um die Kunden zu binden.
Doch mit Brecht gesprochen gilt, „wenn die Not am größten ist die Rettung am nächsten“.
Denn:
Die Moderne geht momentan an ihrem Erfolg zugrunde
Sie stirbt an Überproduktionen aller Art. Die Märkte sind übervoll mit Waren und Arbeitskraft. Die Moderne erstickt. Die Anstrengungen ständig neue Bedürfnisse zu schaffen sind an ihre Grenze gekommen. Und auch der erfolgreiche Verkauf von so absurden Dingen wie Klingeltönen kann darüber nicht hinwegtäuschen, daß die aktuelle Form wirtschaftlichen Strebens an ein Ende gekommen ist. Ebenso hat das Spektakel- und Eventmarketing seine Grenze erreicht.
Der paradiesische Teil des Vortrags
Die große Weigerung
Vermehrt fordern die Menschen Kontemplation, Ruhe und Entschleunigung. Immer größere Teile der Bevölkerung haben einfach keine Lust mehr mitzuspielen, bei dieser Riesenmaschine des Geschäfts, verbunden mit grauenhafter Selbstausbeutung.
Die mit der Moderne verbundene entfremdete Arbeit macht die Menschen mittlerweile krank. Das Burn out Syndrom und der Workaholic sind die zwei Seiten der gleichen Medaille, nämlich die der unerträglich gewordenen Arbeit. Dem einen verweigert sich der Leib, so wie er nur arbeiten möchte, der andere arbeitet sich zu Tode. Noch nie waren Glück und Arbeit so weit auseinander wie jetzt am Ende der Moderne. Anpassung an die bestehenden Verhältnisse lohnen sich nicht mehr. Die Geldentschädigung, die man dafür bekommt, ist mittlerweile minimal, verglichen zum zugefügten Schaden.
Motivation
Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, daß heutige Managementseminare sich fast ausschließlich mit Motivation beschäftigen? Mitarbeiter sollen motiviert werden, freudig und lustvoll Höchstleistungen zu bringen. Man sollte dieses Phänomen andersherum lesen, dann wird etwas daraus: Das immer häufigere Auftreten des Wortes „Motivation“ in unterschiedlichen gesellschaftlichen Zusammenhängen ist ein indexikalisches Zeichen für den immensen Zuwachs an entfremdeter Arbeit. Bei der Gruppe von Menschen, die noch Arbeit haben, gehen offensichtlich immer mehr Menschen einer Tätigkeit nach, die sie im Grunde nicht ausstehen können. Denn nur zu einer solchen muß man Menschen motivieren. Immer mehr Menschen haben also keine Lust mehr, sich den ökonomisch erwünschten Ausbeutungsstandard gefallen zu lassen.
Vom Fluch zum Segen. Die Metamorphose der Arbeit
Ich will noch mal kurz erinnern, wie und wann die Arbeit sich vom Fluch zum Segen wandelte. Der religionsgeschichtliche Zusammenhang ist heute vielen nicht mehr bekannt. Und nur vor diesem Wissenshintergrund wird verständlich warum Arbeit in unserer Gesellschaft bis heute überhaupt so hoch angesehen ist:
Es folgt ein kurzer historischer Rekurs aus dem alten Testament: Die Arbeit ist eine Götterstrafe, sie setzt ein mit dem Sündenfall. Warum? Hören wir dazu Christoph Türcke: „Arbeit ist die Tätigkeit durch die die Menschen ihre eigenen Lebensbedingungen produzieren. Als einzige Lebewesen sind sie fähig, eigene, von der Natur nicht schon vorgegebene Zwecke zu erdenken und mittels verschiedener, aufeinander abgestimmter Tätigkeiten in der Natur zu verwirklichen. So heben sie sich als arbeitsteilige, durch Bewußtsein organisierte Gesellschaft vom bloßen Naturprozeß ab und machen ihre eigene Geschichte. Wo Arbeit ist, da ist menschlicher Geist, und Geist wiederum ist nicht anders denkbar als von Natur verschieden. Daher kommt wirkliche Arbeit in der Bibel erst vor, wo die harmonische Einbettung der Menschen in die Natur aufhört: beim Sündenfall. Adam und Eva essen vom verbotenen Baum der Erkenntnis: ‚Da gingen den beiden die Augen auf, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren; und sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze’ (Gen. 3,7). Das ist die erste Arbeit, die sie verrichten – nicht weil sie frieren, sondern weil sie sich schämen. Sich als nackt erkennen kann nur, wer mehr ist als nackte Natur. Erst für den Geist ist die Natur das Nackte, Animalische, dem er sich strikt entgegensetzt und dennoch verhaftet bleibt“ (C. Türcke, Gottesgeschenk Arbeit. Theologisches zu einem profanen Begriff, in: Hamburger Adorno-Symposion hrsg. von Michael Löbig und Gerhard Schweppenhäuser, Lüneburg 1984, S. 88). Der Fluch lautet: „Weil du (…) von dem Baume gegessen hast, von dem ich dir gebot: du sollst nicht davon essen, so ist um deinetwillen der Erdboden verflucht. Mit Mühsal sollst du dich von ihm ernähren dein Leben lang (…) Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zur Erde kehrst, von der du genommen bist; denn Erde bist du, und zur Erde mußt du zurück“ (Gen 3,17 und 19).
Noch im Lateinischen labora (Arbeit, Mühe und Not) ist der Fluch der Arbeit voll enthalten. Im Herr/Sklave-, Herr/Knecht- Verhältnis manifestieren sich nun zwei Arten von Arbeit. Der Herr ließ die existentiell notwendige Arbeit durch Sklaven verrichten und war dadurch freigehalten sich für die Polis zu betätigen (das ist eine höhere Form von Arbeit, sie fußte auf gesicherter Existenz – daraus wird später bei Marx der Begriff Selbstbetätigung).
Bis ins hohe Mittelalter, bei den Katholiken tendenziell bis heute, ist das Diktum von der Arbeit als Gottesstrafe, als Fluch, bekannt gewesen. Dann kam eine seltsame Wendung im Protestantismus, nämlich die protestantische Arbeitsmoral, die für die Etablierung der Märkte und später des (globalen) Kapitalismus so wichtig war. Die Arbeit transformierte von der Götterstrafe zum Gottesgeschenk. Man sichert sich, nach protestantischer Moral, durch Arbeit und Leistung zu Lebzeiten ein Plätzchen im Himmel.
Und im Grunde genommen setzt hier, also im Zeitalter des Protestantismus bereits, die, für die kapitalistische Arbeitsgesellschaft so denkwürdige Verkehrung statt: Der Fluch der Arbeit erscheint als Segen, die Freistellung von der Arbeit (die Arbeitslosigkeit) realisiert sich als Fluch, und der Mechanismus, der diese Verwirrung im Kapitalismus des 19. Jahrhunderts bis heute stiftet, ist nicht mehr bloß ein protestantisches Denkprodukt, wie zu Zeiten Luthers, sondern materiell produzierte Realität, die jeder zu spüren bekommt, weltweit. Übrigens ist die Heroisierung der Arbeit nicht nur kapitalistische Doktrin, sondern galt in gleichem Maße für den früheren Staatssozialismus des Ostens.
So ist es zu verstehen, warum sich heute Politiker aller Parteien zusammen mit den Gewerkschaftlern darin einig sind, daß es zuwenig Arbeitsplätze gibt. Und kurz zu den Arbeitslosen, nicht daß der Eindruck entsteht ich würde ihnen gegenüber ein zynische Position vertreten. Verbirgt sich nicht hinter der immer wiederkehrenden Behauptung die Arbeitslosen seien faule Menschen, die, wenn sie nur wollten, ohne größere Schwierigkeiten eine Arbeit bekommen könnten, möglicherweise der Neid der noch Arbeitenden, weil diese längst ahnen, auch wenn ihr Bewußtsein dies nicht zuläßt, daß die Arbeitslosen, was die Zeit zur Kontemplation anbelangt, bereits dort angelangt sind, wo die noch Arbeitenden eigentlich gerne wären?
Anders formuliert: der heute Arbeitslose nutzt, verständlicherweise, weil ihn die Sorge um die materielle Sicherung zu sehr bedrängt, nicht die Möglichkeiten, die er trotz der schwierigen Situation hat. Und viele Arbeitende leiden so sehr unter ihrer Arbeit, daß der Neid gegen den Arbeitslosen so durchschlägt, daß sie den Arbeitslosen am liebsten in Arbeitslager stecken möchten – nach dem Motto, dem soll es genau so schlecht gehen wie mir.
Beide, der Arbeitende und der Arbeitslose, werden betrogen, der eine ist blind für seine Chance, der andere muß lieben (die Arbeit), was er im Grunde haßt.
Wie schon mehrmals angesprochen besteht der eigentliche Skandal nicht darin, daß es zuwenig Arbeitsplätze gibt, sondern darin daß 2006 immer noch an der Arbeitsgesellschaft des 19. Jhd. festgehalten wird. Diese Arbeitsgesellschaft ist aufgrund der hohen technischen Rationalität real schon längst nicht mehr vorhanden. Diese Arbeitsgesellschaft wird heute nur noch simuliert. So ist es die Arbeitslosigkeit, die zukunftsweisend ist und nicht die heutige Form der Arbeit – und schon überhaupt nicht die Schaffung von Arbeitsplätzen.
Wählen Sie bloß keine Parteien, die Arbeitsplätze schaffen wollen – da es solche nicht gibt, heißt das: wählen Sie nicht – was wir brauchen ist eine Legitimationskrise, die bekommen wir nur durch möglichst niedrige Wahlbeteiligungen.
Vom Negotium zum Otium
Arbeit heute ist hauptsächlich noch Arbeit im Dienste des Negotiums. Also Arbeit im Dienste des Geschäfts. Wörtlich übersetzt heißt negotium, der Ort wo Muße nicht ist. Muße ist nun aber mit Glück eng verbunden und Glück eng mit Freiheit. Erwerbsarbeit oder Arbeit als Selbständiger heute ist restlos frei von Muße, Glück und Freiheit. Und vor allem ist sie völlig sinnlos geworden, die Märkte sind voll, kein Mensch braucht das Zeug mehr. Und so langsam erinnern sich die Menschen daran, daß es auch noch eine Arbeit im Sinne des Otiums gab und wieder geben könnte.
Und hier jetzt meine äußerst optimistische Prognose. Die Arbeit im Sinne des Negotiums ist tot, es lebe die Arbeit im Sinne Otiums – sie hat Zukunft. Arbeit wird auf den je verschiedenen Gebrauchswert optimal ausgerichtet sein und nicht auf den ach so langweiligen Tauschwert. Nicht im Dienste der Profitmaximierung und im Dienste quantifizierbarer Leistungskriterien wird man tätig sein, sondern nach Berufung, Lust und Laune.
An den Hochschulen studieren jetzt Menschen vermehrt wieder das, was sie schon immer am liebsten studiert hätten, und zwar gerade weil die ökonomische Lage überall ziemlich aussichtslos ist. Das ist eine völlig verständliche Reaktion auf das Ende der Moderne.
Technikbegriff
Und vielleicht noch eine kurze Erinnerung an den Technikbegriff. Technik wird bei uns in der Regel verstanden im Sinne einer Rationalität, bestimmte Arbeits-, Produktions- und Kommunikationsabläufe effizienter zu machen. So wurde und wird sie bis heute eingesetzt und schaffte gerade dadurch die Möglichkeit uns jetzt von harter, entfremdeter Arbeit zu emanzipieren. Dieses Technikverständnis ist das der Moderne. Mit negativem Vorzeichen funktioniert so auch die ganze Kriegstechnikentwicklung. Immer nach dem Motto: Effiziente Feindvernichtung.
Es gab aber über Jahrhunderte hinweg auch einen anderen Begriff von Technik, jenseits der Effizienzsteigerung von Produktion und Vernichtung. Er war an den Fürstenhöfen verbreitet und fußte auf der Verschwendungsökonomie der Höfe. Einfach formuliert langweilten sich die Fürsten und Hofdamen nicht selten und man suchte spielerische Unterhaltung und dazu gab es Techniker am Hofe. Wunderbare Feinmechaniker waren da tätig, die Spieluhren aller Art für die Herrschaften zur Belustigung entwarfen. Kleine Roboter wurden damals schon entworfen, bekannt wurde im 18. Jahrhundert eine mechanische Ente, die sogar fressen konnte.
Dann die Feuerwerker. In der Barockzeit entwarfen sie die schönsten Feuerräder in unterschiedlichen Farben zur Unterhaltung in lauen Sommernächten. So geht’s doch auch. Dies ist ein spielerischer Umgang mit Technik. Und hat nicht Schiller in den „Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen“ den spielerischen Umgang mit der Welt als den eigentlich menschlichen bezeichnet?
Vielleicht sollten wir einmal folgende Fragen stellen:
Wie könnte denn zum Beispiel eine philosophische Akademie, eine Stoa, eine Wandelhalle für die Peripatetiker heute aussehen? Also ein Ort an dem Theoriearbeit im Sinne der Muße betrieben wird? Es geht dann genau nicht um einen Think Tank von heute, wo dann wieder nur ein paar Techniker, Kommunikationswissenschaftler und korrupte Philosophen darüber nachdenken, wie man Produktionsprozesse oder Kommunikationsabläufe oder Vernichtungsprozesse effizienter, sprich billiger, machen kann. Genau das langweilt doch restlos, weil es völlig lustlos ist. Nein, es ginge um die Frage, wie ein Arbeitsplatz als Ort der Muße, also für Menschen die Zeit haben, aussehen könnte? Wer nie Zeit hat tut nichts, das wußte schon Seneca, und die Frauen und Herren des Geschäfts haben eben nie Zeit und fallen dann in ihre notwendigen Midlifekrisen nach dem Motto: oh je, oh je ich bin schon vierzig, habe ich denn überhaupt schon gelebt? Wie jämmerlich muß das Leben für so einen Menschen sein. Schluß damit. Interessant wäre auch, wie ein Ort überflüssigen, untergegangenen, erfolglosen Wissens aussehen könnte? Seit Jahrhunderten bestimmt die Moderne, was als erfolgreich gilt und was nicht, anstatt den Erfolg als totalitäres Zwangssystem zu erkennen und zu kritisieren. Sollten wir nicht auch mal dem bisher Erfolglosen eine Chance geben? Oder lassen Sie uns mal im Sinne der Mimesis über das Bestehende reflektieren: Eine Welt, in der so sinnlos produziert wird, wie in der unseren, braucht unbedingt ein Museum des Unsinns. Die Fluxuskünstler wußten das. In diese Richtung sollten wir gehen, um endlich wieder zu einer Arbeit und damit auch zu Arbeitsplätzen zu kommen, die diesen Namen wirklich verdienen.
Arbeit im Sinne des Negotiums ist tot, es lebe Arbeit im Sinne des Otiums!
Prof. Dr. Thomas Friedrich, Kurzbiografie:
1959 geboren. Studium Grafik-Design und anschließend Philosophie, Politische Wissenschaft und Volkskunde in Würzburg. Lehrtätigkeit als Hochschuldozent für Geschichte und Theorie der Visuellen Kommunikation, an der Fakultät Gestaltung der Bauhaus-Universität Weimar. Seit März 2000 Professor für Philosophie und Designtheorie an der Fakultät Gestaltung der Hochschule Mannheim. Dort leitet er das Institut für Designwissenschaft.
Zusammen mit Gerhard Schweppenhäuser gibt Thomas Friedrich die Buchreihe „Ästhetik und Kulturphilosophie“ im LIT Verlag (Münster, London) heraus.
Seit 2002 ist er Redakteur der „Zeitschrift für kritische Theorie“ (zu Klampen, Springe). Er ist Gründungsmitglied der „Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und –forschung“, berufenes Mitglied der „Freien Akademie der Künste Mannheim“ und des „Deutschen Werkbundes Baden-Württemberg“ und Leiter der Sektion Design der „Deutschen Gesellschaft für Semiotik e. V.“