Fotografische Recherche zur Geschichte einer armenischen Familie
Zur Ausstellungseröffnung spricht Dr. Lida von Mengden
Ausstellung vom 9. Oktober – 29. November 2019
LILIT MATEVOSYAN
What can we call our «home»? The place in which we were born, or the address that
is specified in the passport; maybe this place is where we live native people, or the city
in which we dream to leave?
PROJECT ‘I HAD LEFT MY HOME EARLY IN THE MORNING’
Vanadzor. Armenia, 2018 – 2019
I was born the year after the earthquake, in April 1989. Then my mother carried me under her heart and miraculously survived during the strong 8-ball tremors. I could not see the horrors of what was happening after the tragedy, but in my memory there are
fragments of memories from my childhood, which I spent in Armenia. For parents it was a hard time without work, light, water, and most importantly —hope.
My memories of a happy childhood in a dusty yard, walks through the woods in search of thyme, playing hide-and-seek in an unlit night yard. I remember the village where my family lived after the earthquake — in a one-storey house built by the Finns in the area of Darpas, as humanitarian aid to the victims.
People still live in these «outhouses». I spent my childhood in this house until our family emigrated to Russia in 1993.
My father often took me with him on what seemed to me at that time to be large journeys from Armenia to Georgia. The borders in 1993 were like minefields of bandit groups. We did not avoid meeting with them. That was the first time I saw people with
guns. After the first shot, I was afraid for my father. He didn’t put his hands up on the order, dad covered my eyes with them. I was 3 years old.
„Lilit Matevosyan. I had left my home early in the morning“
Ausstellung im Kulturcafe „FranzundLissy“
9.Okotber 2019 – verlängert bis 30.Dezember 2019
Rede von Dr. Lida von Mengden zur Eröffnung:
Lilit Matevosyan bezeichnet sich als Dokumentarfotografin.
Schon während ihres Studiums der Innenarchitektur in Sochi begann sie damit, ihre Familie und Freunde zu fotografieren. Heute arbeitet sie vor allem als Straßenfotografin, mit dem Ziel, nur das zu fotografieren, was ihr gefühlsmäßig wichtig ist. So will sie sehr nah an das Objekt herankommen, aber dabei unbemerkt bleiben.
Bei näherer Betrachtung ihrer Fotos wird deutlich, dass es sich nicht um reine Dokumentar- oder Straßenfotografie handelt, die sich neutral oder unbeteiligt gegenüber ihrem Motiv zeigt, zum Beispiel Momentaufnahmen im öffentlichen Raum, sondern eher um essayistische Milieustudien. Man findet in Lilit Matevosyans fotografischen Ansatz eine ausgeprägte erzählerische Komponente, in einem Bild soll, so die Künstlerin, wie in einem Kondensat die Essenz einer Geschichte zusammengefasst erscheinen. Sie will den/die BetrachterIn in die dargestellte Welt hineinholen und direkt auf der Gefühlsebene ansprechen. Das ist ihr künstlerisches Credo.
Eine Besonderheit in ihrem Werk stellt die hier vorgestellte sehr persönliche Serie „I had left my home early in the morning“ dar, die sich mit ihrer Familiengeschichte befasst, und insofern einen stärker erzählerischen Fokus einnimmt. Aber auch in früheren Arbeiten, etwa in den von starken Kontrasten bestimmten Schwarz-Weiß Fotos, die 2016/17 in der Ausstellung „Quattrloge20Plus“ in der Rudolf-Scharpf-Galerie Ludwigshafen zu sehen waren, zeigte sich, dass in ihrer Fotografie das Dokumentarische mit dem Erzählerischen verschwistert ist und von einem empathischen Blick getragen wird.
Sowohl in der Rudolf-Scharpf-Galerie als auch hier in „FranzundLissy“ liegt der thematische Focus auf Armenien. Das hat natürlich mit der Herkunft der Künstlerin zu tun. Matevosyan bezeichnet das Projekt „I had left my home early in the morning“ als „fotografische Recherche zur Geschichte einer armenischen Familie“ in 5 Teilen. Sie erzählt in diesem Bilderzyklus anhand unterschiedlicher Motive und Szenen von einer Art Forschungsreise in die Familiengeschichte, die eine beispielhafte Migrationsgeschichte ist. Die ersten beiden Teile führen in den Kaukasus zu den verschiedenen Lebens-Orten ihrer Familie. Der 1. Teil behandelt Georgien, wo Matevosyan 1989 in Tiflis geboren wurde. Die Eltern waren 1988 mit den Schwestern der Künstlerin nach dem großen Erdbeben in Nordarmenien, vor den großen Zerstörungen, und dem Zusammenbruch der Infrastruktur – es gab kein Wasser, keinen Strom, etc. – nach Tiflis geflohen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Hier in „FranzundLissy“ wird der 2. Teil vorgestellt, der den Spuren der Familie in Armenien folgt. Denn 1990 musste die Familie wieder nach Armenien zurückkehren, da der georgische Nationalismus den Armeniern das Leben schwer und fast unerträglich machte. Doch die furchtbare Armut in Armenien und die Hoffnungslosigkeit zwang die Familie wieder aufzubrechen und alles zu verlassen. Sie versuchten einen Neuanfang in Sachalin, einem der einsamsten und entferntesten Orte der Welt, wie Matevosyan schreibt. Doch auch dort konnten sie nicht bleiben, und verließen Sachalin nach fünf Jahren wieder, um sich in Sochi niederzulassen.
Der Titel der Ausstellung „I had left my home early in the morning“ ist keine Beschreibung einer realen Fluchtszene, sondern ist als Metapher zu verstehen für die wiederholten Phasen von Flucht und dem Zurücklassen alles Vertrauten, dessen, was man Heimat nennen könnte.
Und so schwingt diese Frage „Was ist Heimat?“ in jedem Bild der Ausstellung mit.
Matevosyans Fotoprojekt beschreibt eine Suche nach den Spuren ihrer Kindheit. Es ist eine Art Milieustudie, eher essayistisch angelegt, es finden sich nur wenige zufällige Momentaufnahmen, wie sie für die Straßenfotografie typisch sind. Die Fotos sind in reale Bilder übersetzte Erinnerungen, sie zeigen ihre Lieben, den Vater, seine Hände, die Schwestern der Künstlerin, Verwandte und Freunde, sie öffnen den Bildraum für den Geruch der Kräuter, die sie als Kind in den Bergen sammelte, für die weiten Ausblicke über das Land, die hoch aufragenden Berge – es ist eine Suche nach dem Vertrauten, inmitten des Unvertrauten und Fremdgewordenen – eine Welt, in der Vergangenheit und Gegenwart in eins fallen – in der sie immer noch Spuren des damaligen Erdbebens und der drückenden Armut findet.
Dieses Mosaik der verschiedensten Motive wird getragen von einem inneren Zusammenhang, welcher der inneren Gestimmtheit der Fotografin entspricht, ihrer Gefühle, die sie mit dem Dargestellten verbindet. Der Bildstreifen aus Porträts, Landschaften, Szenen des täglichen Lebens, den einfachen Dingen des Alltags, Skurrilitäten, etc. erzählt kleine Geschichten, die zum Lesen einladen, und so dem Betrachter erlauben, dem Blick der Künstlerin zu folgen.
Wie wählt die Künstlerin ihre Motive aus? Sie selbst spricht davon, dass eine Person, ein Gegenstand oder eine Szene in ihr etwas auslösen, einen spontanen Impuls. So nähert sich Lilith Matevosyan ihrem Objekt auf der Gefühlsebene, sie wartet auf den einen Moment, in dem das innere Bild mit dem äußeren übereinstimmt, um dann auf den Auslöser zu drücken. Deshalb fotografiert sie analog, ruhig, konzentriert (mit einer Nikon-Kamera für bewegte Szenen, und einer Mamia für statische Motive), es entsteht fast immer nur eine einzige Aufnahme.
Urs Stahel, Kurator für Fotografie, sagte einmal, bei der Analogfotografie bestimme „die Welt da draußen“ noch im Wesentlichen den Charakter eines Bildes. Aber letztlich ist es doch der Blick des/der FotografIn, ihr oder sein inneres Bild der Welt, das den Charakter des Fotos prägt. Lilith Matevosyans Aufnahmen durchzieht ein melancholischer Grundton, oft sind es zarte poetische Bilder, die den oder die BetrachterIn mit hineinnehmen in den Strom der Erinnerungen, Szenen eines Lebens, auf der Suche nach der Heimat.
Der französische Philosoph Jean Beaudrillart hat in einem frühen Text (aus: Das Ding und das Ich: Gespräch mit der täglichen Umwelt, Wien 1974) geschrieben: „Was die Tiefe des Elternhauses auszeichnet, sein Erfülltsein mit Erinnerungen veranschaulicht, beruht offensichtlich auf dieser komplexen Struktur der Verinnerlichung, in welcher Gegenstände vor unseren Augen eine symbolische Konfiguration annehmen, die man als Zuhause bezeichnen kann.“ Man könnte diese Überlegungen auch auf den Begriff der Heimat übertragen. Die Gefühle, die wir mit „Heimat“ assoziieren – Menschen, die wir lieben, das Zusammensein mit Freunden, das Haus, in dem wir aufwuchsen, Stimmen, Geräusche, Gerüche, die nahe oder ferne Welt um uns herum – dies alles birgt eine besondere Innigkeit, einen affektiven Wert. Lilith Matevosyans Serie handelt von einem Versuch, dieser Innigkeit, oder Präsenz auf die Spur zu kommen, sie sozusagen wieder mit Gegenwart, mit Heute, mit Nähe aufzuladen, in einer poetisch-melancholischen Anverwandlung, und so ein Stück Kindheit zu finden und wieder lebendig werden zu lassen.
© Lida von Mengden 2019